«Gewalt bei älteren Paaren bleibt oft lange Zeit unentdeckt»

    Am 15. Dezember 2023 startete in der Schweiz eine nationale Sensibilisierungskampagne zum Thema «Gewalt bei älteren Paaren». Die Aktion unter der Leitung der Haute Ecole de la Santé La Source (HES-SO), des senior-lab und des nationalen Kompetenzzentrums Alter ohne Gewalt hat das Ziel, die Sichtbarkeit dieses bisher kaum beachteten Problems zu erhöhen und die bestehenden Hilfsangebote in der Schweiz bekannter zu machen. Ruth Mettler Ernst, Geschäftsleiterin Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter UBA, Nationales Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt und Gabriela Rauber, Wissenschaftliche Projektmitarbeiterin, Haute École de la Santé La Source (HES-SO) Lausanne, erläutern die Thematik und deren Lösungsansätze.

    (Bilder: zVg) Die geschätzte Zahl von Gewalt betroffenen älteren Menschen in der Schweiz ist hoch. Im Jahr 2023 meldeten sich 359 Personen bei der nationalen Anlaufstelle Alter ohne Gewalt.

    In der Schweiz sind jährlich mehr als 30’000 über 60-Jährige von Gewalt betroffen. Eine sehr hohe Zahl – was läuft da falsch, respektive wieso wird diesem Umstand kaum Beachtung geschenkt?
    Ruth Mettler Ernst: Die geschätzte Zahl von Gewalt betroffenen älteren Menschen in der Schweiz ist hoch. Im Jahr 2023 meldeten sich 359 Personen bei der nationalen Anlaufstelle Alter ohne Gewalt. Gegenüber dem Vorjahr handelt es sich um eine Steigerung von 40 Prozent. Zwischen der Anzahl der gemeldeten Gewaltfälle im Alter und derjenigen von potentiell von Gewalt/Misshandlung Betroffenen klafft eine grosse Lücke. Die gewaltbetroffenen Seniorinnen und Senioren suchen sehr oft keine Hilfe, weil sie sich schämen und Angst vor den Konsequenzen haben. Die Betroffenen haben oft gesundheitliche Probleme und sind auf die Hilfe ihrer Umgebung angewiesen. Sie haben Angst, die Kontrolle über ihre Situation zu verlieren, in ein Heim gehen zu müssen oder die Beziehung zu nahestehenden Personen zu gefährden. Sie gehören einer Generation an, die es gewohnt ist, Probleme in der Familie zu lösen.

    Gabriela Rauber: «Jeder Mann und jede Frau, die Gewalt bei einem Paar vermuten, können sich an das Nationale Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt wenden, um sich im Umgang mit der Situation beraten zu lassen.»

    Gabriela Rauber: Die Information und Sensibilisierung der älteren Bevölkerung, der Angehörigen und Fachpersonen, aber auch der Gesamtbevölkerung zu Gewaltformen und zu vorhandenen Hilfsangeboten ist deshalb dringend notwendig. Die beiden nationalen Sensibilisierungskampagnen «Es ist nie zu spät, Hilfe zu holen» (Frühling 2023) sowie «Gewalt bei älteren Paaren» (Dezember 2023) haben zum Ziel, die älteren Menschen, deren Angehörige und Fachpersonen, aber auch die breite Bevölkerung über Gewalt im Alter zu informieren.

    Im Dezember letzten Jahres wurde die Kampagne «Gewalt bei älteren Paaren – es ist nie zu spät, Hilfe zu holen!» lanciert. Wer sind die Initianten und welches Ziel verfolgen Sie damit?
    Gabriela Rauber: Die Sensibilisierungskampagne «Gewalt bei älteren Paaren» beruht schwerpunktmässig auf Daten aus Interviews mit ehemaligen Opfern, die zum Zeitpunkt der Tat im Seniorenalter waren, und Fachleuten aus den Bereichen Gewalt sowie Alter aus den drei grössten Sprachregionen der Schweiz. Die Interviews wurden im Rahmen eines gemeinsamen Projekts der Fachhochschule für Gesundheit La Source (HES-SO), des senior-lab und des Nationalen Kompetenzzentrums Alter ohne Gewalt durchgeführt. Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG sowie die Oak Foundation, Genf, unterstützen das Projekt mit einer Co-Finanzhilfe.

    Ruth Mettler Ernst: «Jahrelange Missstände trüben oft das Bewusstsein, dass die eigene Situation nicht in Ordnung ist.»

    Ruth Mettler Ernst: Die Kampagne, die am 15. Dezember 2023 lanciert wurde, setzt sich für einen besseren Zugang von älteren Menschen zu Hilfsangeboten bei partnerschaftlicher Gewalt in der Schweiz ein. Sie ist eine Fortsetzung und Ergänzung der Kampagne über Gewalt gegen ältere Menschen «Es ist nie zu spät, Hilfe zu holen», die im Frühjahr 2023 von der Schweizerischen Kriminalprävention, der Opferhilfe Schweiz und dem Nationalen Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt durchgeführt wurde. Die neue Kampagne steht unter dem gleichen Slogan «Gemeinsam gegen Gewalt im Alter».

    Die Kampagne läuft schon ein paar Monate, können Sie schon eine Bilanz ziehen?
    Ruth Mettler Ernst: Die Kampagne wurde am 15. Dezember lanciert. Seither ist eine Steigerung der Meldungen bei alter ego, Westschweiz, Pro Senectute Ticino e Moesano, Südschweiz, und der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter UBA, Deutschschweiz, feststellbar. Eine Auswertung über die Entwicklung der Fallzahlen und der Formen von Gewalt in Paarbeziehungen älterer Menschen wird das Nationale Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt in der Mitte dieses Jahres veröffentlichen.

    Eine neue Studie der Haute Ecole de la Santé La Source (HES-SO) zeigt, dass Gewalt bei älteren Paaren im Wesentlichen die gleichen Merkmale aufweist wie bei jüngeren Paaren. Was muss man sich darunter vorstellen?
    Gabriela Rauber: Die Resultate unserer Studien verdeutlichen, dass partnerschaftliche Gewalt als eine Form der häuslichen Gewalt kein Alter kennt und in allen Altersgruppen vorkommt. Psychische Gewalt und zwanghafte Kontrolle sind weit verbreitet, auch körperliche und sexuelle Gewalt kommen häufig vor sowohl in Paarbeziehung jüngerer wie auch älterer Menschen. Betroffen sind sowohl Frauen als auch Männer. In der Schweiz erlebt eine von fünf Frauen Gewalt in der Beziehung. Wenn wir also bedenken, dass die über 64-Jährigen heute fast 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung ausmachen, haben wir es mit einer grossen Gruppe von Menschen zu tun.

    Der Übertritt ins Pensionsalter ist eine besonders kritische Phase und kann bestehende oder potenzielle Gewaltdynamiken weiter verschärfen. Welche Thematik stecken dahinter und wie kann man solche Gewaltspiralen lösen oder verhindern?
    Ruth Mettler Ernst: Die Auswertungen der Studie zeigen, dass die Pensionierung eine bereits bestehende Gewaltsituation zwischen Ehepartnern verstärken kann, da Gewalt Ausübende und Gewalt Betroffene in vielen Fällen plötzlich sehr viel mehr Zeit zuhause verbringen und die Arbeit, die vielleicht als Ort der Selbstverwirklichung, als Möglichkeit für soziale Interaktionen oder schlicht als «Puffer» für die Beziehung gedient hat, wegfällt. Man ist sich im Alltag nun verstärkt ausgesetzt und muss sich mit dieser neuen Situation auseinandersetzen. Oder aber ein Partner oder eine Partnerin erkrankt schwer. Dies kann einerseits zu einer Überforderung bei dem Partner führen, der nun eine betreuende Aufgabe übernehmen muss, andererseits können bestimmte Erkrankungen, wie etwa Demenz, teilweise dazu führen, dass die erkrankte Person Verhaltensveränderungen durchmacht und beispielsweise aggressiv gegenüber dem Partner reagiert. Solche einschneidenden Veränderungen der Lebenssituation können das Gewaltrisiko ebenfalls erhöhen, sie stehen aber nicht im Fokus der Studie.

    Wie gross ist die Chance, dank professioneller Unterstützung die Gewalt bei älteren Paaren zu mindern oder zu beenden?
    Ruth Mettler Ernst: Jahrelange Missstände trüben oft das Bewusstsein, dass die eigene Situation nicht in Ordnung ist. Um festzustellen, ob man von Gewalt betroffen ist, kann man sich beispielsweise fragen: Kontrolliert mein Partner/meine Partnerin, mit wem ich Kontakt habe? Hatte ich schon mal Angst vor ihm/ihr? Zwingt mein Partner/meine Partnerin mir Entscheidungen auf, die ich gar nicht will? Fühle ich mich von meinem Partner/meiner Partnerin erniedrigt und gedemütigt? Ähnliche Fragen können sich auch Angehörige oder Drittpersonen stellen, wenn sie vermuten, dass eine ältere Person von partnerschaftlicher Gewalt betroffen sein könnte. Wird eine oder mehrere dieser Fragen mit «ja» beantwortet, ist der Anruf bei einer niederschwelligen Anlaufstelle, wie dem Nationalen Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt ein guter erster Schritt, um Informationen über mögliche Lösungsschritte zu erhalten und um Fachpersonen zugeführt zu werden. Lieber «früher als später» und lieber «spät als nie» gilt auch bei Gewalt, und auch dann, wenn man merkt, dass man in einer Situation überfordert ist und zum Beispiel selber ungerecht einer pflegebedürftigen Person gegenüber wird oder dazu tendiert, diese zu misshandeln.

    Sind zum Thema «Gewalt im Alter» weitere Kampagnen geplant?
    Gabriela Rauber: Opferhilfe Schweiz hat im Februar 2024 eine Kampagne über Social Media lanciert, welche ebenfalls auf Gewalt im Alter aufmerksam macht. Der Ständerat hat kürzlich eine Motion angenommen, die die Erstellung eines Impulsprogramms «Gewalt im Alter» fordert. Dies könnte in Zukunft zu weiteren Kampagnen führen. Darüber hinaus planen die Haute Ecole de la Santé La Source (HES-SO), die Schweizerische Kriminalprävention, Opferhilfe Schweiz und das HEKS-Programm Alter und Migration für die Jahre 2024-2025 eine ergänzende Studie, die sich mit häuslicher Gewalt gegen ältere Menschen mit Migrationshintergrund befasst.

    Was kann unsere Gesellschaft aktiv zum Thema «Gewalt im Alter» beitragen?
    Ruth Mettler Ernst: Gewalt bei älteren Paaren bleibt oft lange Zeit unentdeckt und im Verborgenen. Die nationalen Sensibilisierungskampagnen wollen dies ändern und das Thema in die Öffentlichkeit tragen, um die Bevölkerung allgemein zu sensibilisieren. Wer Kenntnisse über die verschiedenen Gewaltformen und deren Auswirkungen auf den älteren Menschen hat, hört und sieht anders hin.
    Gabriela Rauber: Jeder Mann und jede Frau, die Gewalt bei einem Paar vermuten, kann sich an das Nationale Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt wenden, um sich im Umgang mit der Situation beraten zu lassen. Grundsätzlich gilt es zu beobachten und hinzuhören, allenfalls Notizen zu machen, bei Stimmungsänderungen, gesundheitlichen Problemen oder verändertem Verhalten nachzufragen, sich seine Rolle bewusst zu machen, d.h. zu reflektieren und entweder Hilfe anzubieten oder sich einer Hilfsorganisation für eine Beratung anzuvertrauen.

    Interview: Corinne Remund


    Hilfsangebote

    Die Kontaktstelle des Nationalen Kompetenzzentrums Alter ohne Gewalt stellt ein solches Hilfsangebot zur Verfügung. Sie ist kostenlos und in drei Sprachen (Deutsch, Französisch und Italienisch) unter der Telefonnummer 0848 00 13 13 oder per E-Mail unter info@alterohnegewalt.ch erreichbar. Diese Anlaufstelle kann auch anonym in Anspruch genommen werden und bietet ein offenes Ohr sowie Beratung und Orientierung. Dabei werden die Bedürfnisse und Wünsche der älteren Gewaltbetroffenen berücksichtigt. Die Kontaktstelle richtet sich gleichermassen an Seniorinnen und Senioren und ihre Angehörigen wie auch an Dritte und Fachpersonen. Eine Meldung ist kostenlos.

    www.alterohnegewalt.ch

    Vorheriger Artikel10 Jahre FANTASY BASEL – The Swiss Comic Con
    Nächster ArtikelKlimaaktivist Max Vögtli und seine Gefolgschaft